Mit einem Stipendium der zis-Stiftung war ich unterwegs. Über die Situation von Flüchtlingen aus Tschetschenien schreiben. Auf der Suche nach Antworten fuhr ich von Wolgograd, über Astrachan und Stavropol nach Wladikawkas. Mein Gepäck kannte ich bald in- und auswendig, etliche Male durfte ich es vor der Bahnpolizei ein- und auspacken. Das Lachen fiel mir immer schwerer. Meine Reiseroute hatte ich kurzfristig wegen der unsicheren politischen Situation in Inguschetien verlegen müssen. Am dritten Reisetag ging in Kaspisk eine Bombe hoch. Die Nachrichten zerrissen die blumigen Paraden am Tag des Sieges. Ich war nur wenige Busstunden davon entfernt. Neun Menschen starben dort an diesem 9. Mai, 15 wurden verletzt. Es war nicht das erste Mal in Dagestan. Wer erinnert sich heute schon daran? Wir sind satt. Der Krieg in Tschetschenien ist für uns weit weg. In den Gesichtern der Flüchtlinge ist er Alltag.
Auf meiner Reise sprach ich mit Offiziellen, stieß ich auf ihr Misstrauen und ihre mangelnde Gesprächsbereitschaft. Sah den Einsatz nichtstaatlicher Flüchtlingsorganisationen und ihre Abhängigkeit von Spenden. Hörte die Schicksale von Menschen, die der Krieg nachts aus ihren Häusern zwang. Treffe einen Jungen, dessen Vater von Soldaten vor seinen Augen erschossen wurde.
Wir sitzen auf viel zu kleinen Stühlen in einem Reha-Zetrum für Kinder in Wladikawkas. Ich bin umzingelt von buntem Plastik. "Wenn nachts die Kakalaken rascheln, kann ich nicht einschlafen", flüsterte der Zwölfjährige. Das Gespräch mit Aadm geht mir immer wieder durch den Kopf. Er lebt in einem der Zeltlager, die wenige Kilometer von Grozny entfernt in der Nachbarrepublik Inguschetien aufgebaut sind. Die Wände wackeln. Trinkwasser gibt es aus großen Kanistern, Gas und Strom selten. "Ich will zurück in mein altes Dorf in Tschetschenien, doch dort ist immer noch Krieg", stellt er nüchtern fest.
Der Mut steckt überall. Und so sah ich Aadm den gleichen Nachmittag lachend mit anderen Kindern herumtoben. Ihr Leben ist anders.
Russland, das ist, wenn du fährst, fährst und kein Ende siehst. Vielleicht ist der Kaukasus die politische Nebenspur dazu. Das Land blüht in einer großartigen Weite, ist bunt an Kulturen, und sieht doch nur schwarz und weiß. Eine Erinnerung rüttelt dich in allen Farben wach. So eine Reise lässt dich nicht los, weil du dich voll in sie fallen gelassen hast. Ich lernte, was ich nicht in Worte fassen kann. zis gab mir eigene Wege. An die Seite wird einem eine erfahrene Stimme gestellt, die bei der Planung hilft und sich auch bei der Auswertung nicht versteckt. Ich bin noch nie so intensiv gereist. Es ist mehr als eine Reise - ein Versuch, Fragen zu stellen.
Die Männer singen immer noch vom Himmel. Berlins Bewohner sind stumm. Die U-Bahn schweigt. Ich bin ratlos. Könnten wir doch nur die Dinge verstehen, um die Menschen begreifen zu können.
Bericht und Tagebuch sowie zahlreiche Fotos: www.mwaehlisch.narod.ru/zis