Russland - das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten
Russland - das Land der Bodenschätze
Russland - das größte Land der Welt
Russland - das Land, in dem ich fast ein Jahr lebte
Russland - ein Land, in dem es an guten Straßen und Toiletten mangelt, weshalb die Touristen wegbleiben, das wusste schon der große russische Dichterfürst A.S. Puschkin
Russland - das sind nicht die Megapolise Moskau und St. Petersburg, das sind die Provinz, unendliche Weiten, Birken, ein blauer, wolkenverhangener tiefer Himmel und viele Menschen, gastfreundlich.
Geh nach Moskau und du erlebst den großstädtischen Wahnsinn, du bist Teil eines pulsierenden Organismus, du bist Schnelligkeit, dir eröffnen sich unzählige kulturelle Möglichkeiten. Dann geh nach Murmansk, im Winter am besten, erlebe die eisfreie Barentsee, die Stadt, die winters den ganzen Tag nicht aufwacht, weil die Sonne den Horizont nicht erreicht. Geh nach Wladiwostok und erlebe die Wucht des Stillen Ozeans. Geh nach Wladikawkas und werde konfrontiert mit so genannten Binnenflüchtlingen. Geh nach Oimjakon und erlebe den Kältepol der Erde, dort wo der Schnee zehn Monate im Jahr oder noch länger nicht taut.
Ich lebte und arbeitete im Rahmen eines Friedensdienstes schon zehn Monate in Moskau, als mich meine zis-Reise nach Nishnewartwosk über Tjumen und Surgut führte. Mein Ziel war - man möge mir das Paradoxon verzeihen - die laienhafte Erforschung des Themas Erdöl. Der Samotlorsee birgt unter sich riesige Ölvorkommen, die seit 1963 systematisch ausgebeutet werden. Am See entstand in den 60ern ein Siedlung, Nishnewartwosk, in den Sumpf gestampft, mitten in eine mückenreiche Gegend hineingesetzt, angesiedelt wurden zusammengewürfelte Menschen: Spezialisten, Arbeiter, später kamen deren Familien hinzu, Institute und Hochschulen wurden gegründet. Diese Menschen fühlten sich nicht zuhause hier, sie lebten jahrzentelang in einem Provisorium, zehrte vom Gedanken an eine Heimat, die es nicht mehr gab, zumindest nicht dort, wo sie sie vermuteten: denn ihre Heimat war sukzessive Nishnewartowsk, die ungeliebte Stadt, geworden.
Drei Aspekte beinhaltete meine Arbeit, von allen wurde sie gleichermaßen geprägt:
- die Erdölförderung an sich
- die daraus resultierende Umweltverschmutzung durch Unfälle
- die Lebenswelt der Ureinwohner, Chanten und Mansen, die unmittelbar an die Erdölfördergebiete grenzt
Drei Ereignisse möchte ich vor meinem und Ihrem geistigen Auge (wieder-)aufleben lassen.
Menschen.
Ich reiste von Moskau mit dem Zug 58 Stunden nach Tjumen, ebenfalls eine mit dem Erdöl zusammenhängende Stadt, verbrachte dort einen Tag und fuhr dann weiter in Richtung Surgut, von wo aus ich ein Tragflächenboot nehmen wollte, um Nishnewartowsk zu erreichen. Leider geschah folgendes: Auf dem Weg von Tjumen nach Surgut aß ich etwas, was ich nicht vertrug und erlitt eine Lebensmittelvergiftung. Man stelle sich die durchaus dramatische Situation vor: eine junge Frau, zis-Reisende, zu Beginn ihrer Reise - und ihr werden solche Knüppel zwischen die Füße geworfen. Doch dank meiner Mitreisenden Joscha und Faya und dem Natschalnik, der Chef des gesamten Zuges, überstand ich die würgenden Strapazen. Schließlich bemühte der mir so geneigte Natschalnik auch zweimal einen Krankenwagen, für die der gesamte Zug dann auch außerplanmäßig hielt. Also, liebe zukünftige Russlandreisende: habt keine Angst davor, etwas Essbares von Mitreisenden anzunehmen, ich überlebte die Folgen auch.
Erdölförderung und Umweltverschmutzung.
Ein ganzer Konvoi gut angezogener, krawattenbehalster Männern begleitete mich, als ich darum bat, mir die Rekultivierung von Gewässern zu zeigen. Drei Männer hatten seit acht Uhr morgens daran gearbeitet, ausgeflossenes Öl über ein kompliziertes System in ein Plastikbassin hoch zu pumpen. Es war bereits 15 Uhr, ein besonders wichtiges Menschlein erklärte mir gerade das Prinzip und die Vorbildlichkeit der Rekultivierungsmaßnahmen, als sich das Unglaubliche ereignete: Das Plastikbassin stand schief auf einer Luge mit einer Sandunterlage und war schon recht voll, als es plötzlich in sich zusammenbrach und das ganze mühselig gewonnene Öl, die Arbeit eines ganzen Tages, sich über die frische, grüne Wiese ergoss… Willkommen in Russland!
Ureinwohner und die Stille unter dem weiten blauen russischen Himmel.
Chanten, die Ureinwohner Sibiriens, leben von dem, was sie sammeln, erjagen und fangen. Sonst brauchen sie nur Mehl, Öl, Zucker und Diesel für ihre Motorboote aus der Welt der Zivilisation. Sie haben weder elektrisches Licht noch tagesaktuelle Nachrichten aus den modernen Medien. Sie leben im Kreise ihrer Familie, mit maximal zehn Menschen und besitzen vielleicht noch einige Bücher. Ansonsten widmen sie sich dem Arbeiten und Schweigen. Ja, so merkwürdig das klingen mag, aber die Größe dieser Menschen äußert sich für mich in ihrer Ruhe, Ausgeglichenheit, Selbstzufriedenheit und Schweigsamkeit. Denn nur wer selbstsicher ist und in sich ruht, kann mit anderen zusammen schweigen - und dieses Schweigen vermag manchmal von viel größerer Intensität zu sein als viele Worte, die wir zivilisierten Menschen viel zu oft ohne Bedeutung daherreden. Für diese Menschen, die die Russen so oft als Primitive verachten, hege ich die größte Beachtung und Bewunderung. In ihrer Genügsamkeit liegt ihre Größe. Wer mag ihnen das in unserer Welt gleichtun?