Nordirland? Hannover... Brüssel... Calais... hässliche graue Waggons... Dover... Sonne in London... Stranraer... Belfast im Morgengrauen... wundervoll dunkelblaues Wasser... Seeluft... eiskaltes Meerbad... Schafe... besinnliche Momente im Grünen... Einsamkeit... Liebe... Trauer... Trost... Ruhe... Stress... Zelten... Chris... Stephen... Lachen... gemütliche Abende im Wohnheim... Diskussionen... Betroffenheit... Ryan... six pack shot... Mauern... Murals... Corrymeela... Michael... Marian... Katharina... powder keg... Freiheit
Diese Gedankenfetzen kommen mir in den Sinn, wenn ich zurückdenke an meine Reise nach Nordirland im August 2006. Doch nach kurzer Besinnung ergibt sich aus dem Wortpuzzle eine kurze Geschichte aus dem Leben eines 17-jährigen Mädchens, das sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden befindet:
Ich weiß noch, dass ich damals dankbar war, dem deutschen Alltag eine Weile entfliehen zu können. Ich fühlte mich frei. Viele Dinge, die mich in Deutschland endlos nervten, existierten in Nordirland nicht. Verpflichtungen, die ich in Deutschland hatte, fielen von mir ab. Da waren keine Schule, keine Eltern, kein Exfreund, kein Fernseher, kein Internet, keine Werbung. Voller Freude über meine neu gewonnene Selbstständigkeit besuchte ich also meine Kontaktpersonen, vereinbarte Termine, führte Interviews, besuchte den deutschsprachigen Stammtisch, betrachtete die Murals, die Mauern, die Fahnen und schloss etliche neue Freundschaften. Oft wunderte ich mich dabei über die Hilfsbereitschaft und Ruhe der Menschen in Nordirland.
Nichts war zu spüren von der Schnelllebigkeit und geschäftigen Unruhe, die so charakteristisch sind für unsere moderne Welt – und dennoch kam ich voran mit meinen Nachforschungen und konnte recht schnell einen Einblick in die nordirische Gesellschaftsstruktur gewinnen. Doch obwohl ich mit meiner Arbeit zufrieden sein und zusätzlich viele Kontakte knüpfen konnte, überkam mich trotzdem irgendwann ein ungeheures Gefühl der Einsamkeit und meine anfängliche Befürchtung, dass ich das Geschehen in Deutschland nicht komplett zurückdrängen konnte, schien sich zu bewahrheiten: Es war damals so, dass zirka zwei Wochen vor meiner Abreise in Hannover meine Beziehung in die Brüche ging und ich ahnte, dass der Kummer darüber meinen ganzen Aufenthalt überschatten oder sogar kaputt machen könnte.
Diese Einschätzung war allerdings nur halb richtig. Zwar war ich oft traurig, doch trotzdem war die Nordirlandreise das Beste, was mir passieren konnte. Denn ich wurde erstens abgelenkt und zweitens sogar von jemandem aufgefordert, über die Beziehung zu sprechen. Anfangs war ich etwas skeptisch, da ich nicht darauf vorbereitet war, einem Fremden solch intime Dinge anzuvertrauen. Nach dem Gespräch jedoch war mir klar, dass er mir völlig unerwartet sehr weitergeholfen hatte und mich davor bewahrt hatte, in ein noch tieferes Loch zu fallen.
Mehr denn je hielten mich aber die kommenden Wochen davon ab Trübsinn zu blasen. Auf einem anschließenden Zeltlager lernte ich zwei Brüder besser kennen, die immer für Erheiterung sorgten. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie der jüngere von beiden mit 19 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben (!) spülen musste. Nachdem er massenweise Spülmittel in das 20 oder vielleicht 30 Zentimeter tiefe Waschbecken gekippt hatte und dieses plötzlich voller Blasen war, wunderte er sich: „Where do all those bubbles come from?“
Noch intensiver – vor allem auch in Hinblick auf mein Thema – blieb mir allerdings meine Zeit bei Corrymeela, einer karitativen Einrichtung in Ballycastle, in Erinnerung. Dort erzählte mir beispielsweise ein junger Mann aus Belfast, dessen Bruder aktiv in der kriminellen Szene tätig war, so nebenbei, dass er vor kurzem beinahe erschossen worden wäre. Dennoch sah er die Sache positiv – hatte er immerhin die Wahl gehabt zu entscheiden zwischen Kriminalität und ordentlicher Arbeit, was vor einigen Jahren noch nicht selbstverständlich gewesen war. Überhaupt möchte ich an dieser Stelle kein allzu negatives Bild vermitteln, was den Konflikt betrifft. Auf dem Weg zum Frieden ist Nordirland schon viele Schritte gegangen, jedoch: „It depends, where you go!“ Denn noch immer klaffen tiefe Spalten in der irischen Gesellschaft. Dies hielt ich als Fazit meiner Reise fest.
Konnte ich diese Erkenntnis als Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchungen präsentieren, so bedeutete mir die Nordirlandreise persönlich noch viel mehr. Ich habe nämlich während meines Aufenthaltes, insbesondere in Corrymeela, etwas ganz Wichtiges gelernt: So durfte ich am eigenen Leib erfahren, dass Kreativität, spannende Unternehmungen und vor allem das Lachen die beste Medizin sind gegen Kummer und Traurigkeit.