Wie eine Kulisse für einen längst gedrehten Film steht die prächtige Architektur der Stadt Lemberg und den kleineren galizischen Städten da – nur die Akteure fehlen, die alle zusammen das Leben im früheren Lemberg mit ihrer Kultur bereicherten und durch ihr Wirken unbewusst am bunten Flickenteppich der Völkergruppen webten.
„Wie eine leere Muschel, die ohne das Tier drin übrig geblieben war…“: Genau diesen vom Literaturwissenschaftler Jurko Prochasko (Zeit, 1/2004) bildhaft formulierten Zustand fand ich vor, als ich im Sommer 2006 in der heutigen Westukraine die Bedeutung des Vielvölkerkulturerbes der galizischen Provinz des Habsburgerreiches erkundete. Wie eine Kulisse für einen längst gedrehten Film steht die prächtige Architektur der Stadt Lemberg und den kleineren galizischen Städten da – nur die Akteure fehlen: polnische und ukrainische Kinder, die am Nachmittag aus der Schule auf den Markt stürmen, wo die Mägde bereits bei jüdischen, italienischen und griechischen Händlern fremdländische Waren einkaufen und die österreichischen Verwaltungsbeamten durch die Straßen schlendernd die Waren armenischer Juweliere bestaunen. Akteure, die alle zusammen das Leben im früheren Lemberg mit ihrer Kultur bereicherten und durch ihr Wirken unbewusst am bunten Flickenteppich der Völkergruppen webten.
Nach zwei Weltkriegen und einer langen sowjetischen Besetzung, die das multikulturelle Tableau leergefegt haben, nimmt die Vielvölkervergangenheit in den Köpfen der heutigen Stadtbewohner keinen bedeutenden Platz mehr ein. An deren Stelle sind andere Faktoren, besonders aber die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 gerückt. Wenn es aus westeuropäischer Perspektive so aussieht, als wäre ein „Mythos Galizien“ gesponnen worden, ist dies wohl ein auf Literatur und Kunst beschränktes Phänomen.
Zu dieser These führten mich Gespräche mit unterschiedlichsten Menschen aller Bevölkerungsschichten, Altersgruppen und nationalen Zugehörigkeiten. Dabei fand ich mich in einer immer wiederkehrenden Situation wieder: Beim Warten auf den Interviewpartner oder beim Ausschauhalten nach spontan ausgewählten Leuten für meine Befragung. Und immer wieder überkam mich diese kaum auszuhaltende Spannung, bestehend aus einer unbändigen Neugier und einem hohen Maß an Aufregung. Was erwartet mich? Auf was muss ich[nbsp] mich einstellen? Auf den ehemaligen Deutschlehrer, der wie aus einem dicken Geschichtsbuch pathetisch und mit Gesangseinlagen seine eigene Lebensgeschichte vorträgt? Auf den wortkargen Bergführer oder den herzlichen, jiddisch- sprechenden Juden, der alle Fragen falsch versteht? Oder aber auf den zerstreuten Historiker, die Gedichte schreibende Studentin, auf den griesgrämigen Vorstehenden der armenischen Gemeinde? Auf die begeisterte Dozentin oder die schaffenskräftige, forsche Redakteurin einer Kulturzeitschrift? Wie wird die in die Vergangenheit träumende Omi auf der Parkbank reagieren wenn ich sie bei ihrem Sonnenbad störe? Wie die Jugendlichen, die am ukrainischen Unabhängigkeitstag in der Masse vor dem Nationaldenkmal alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchen?
Dieses Warten kurz vor dem Zusammentreffen mit einer neuen Person mit eben solchen Fragen im Kopf war deshalb so speziell für mich auf meiner Reise, weil dieses Spannungsgefühl zunächst noch einer fast ängstlichen Aufregung glich, über die jedoch bald Neugierde Überhand nahm und dann in erwartungsvolle Freude umschlug. Gerade auch weil ich glücklicherweise die Erfahrung machte, dass die Menschen überwiegend offen waren und sich selbst leicht für mein Thema begeistern ließen, fiel es mir schon bald leicht, selbstbewusster mit unbekannten Menschen umzugehen. So fühlte ich mich gewappnet für die Herausforderung, sich auf so viele verschiedene Charaktere in so kurzer Zeit einzustellen, immer zu versuchen das Gespräch am Laufen zu halten oder in die richtigen Bahnen zu lenken.
Mitgenommen habe ich neben der unglaublichen Menge an neuen Erfahrungen, Wissen und netten Kontakten, die ich noch immer pflege, auch Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, was gerade im Zeitalter der verschulten Bachelor-Studiengänge ein schwer erwerbbares Gut ist. Ebenso hat sich meine Haltung zu dieser besonderen Art des Reisens, eben der mit möglichst viel Kontakt zu Einheimischen, was ein Kennenlernen der Landeskultur außerhalb der touristischen Sehenswürdigkeiten verspricht, gefestigt. Ich bin froh, die zis- Erfahrung auf meinen Lebensweg mitnehmen zu können.