Lateinamerikanische Immigrantinnen in Madrid - Geschichten von Frauen auf der Suche nach einem besseren Leben

Spain


Ich sitze in einem rumpelnden, pfeifenden Zug, der seine Insassen aus der Hauptstadt hinaus, in die kleinen, graueren Vororte Madrids bringt, wo viele Ausländer und Arbeiter wohnen. Ich bin unterwegs zu meiner ersten Interviewpartnerin auf dieser Reise, einer Peruanerin, von der ich noch nicht mehr weiß als ihren Vornamen: Carmen.

Ich bin erst seit zwei Tagen hier. Drei Tage lang bin ich von Hamburg nach Madrid gereist, unterwegs mit Ana, einer jungen spanischen Biologin, die mich mitsamt ihrem Hund und ihrer Katze in ihre Heimatstadt gefahren hat, ohne auch nur einen Cent dafür zu verlangen. Die vielen Kilometer sind wie im Fluge vergangen, weil unser Gesprächsstoff einfach unerschöpflich war. In den gemeinsamen Stunden im Auto sind wir Freundinnen geworden.

In meinem Zugabteil sitzen viele Spanier, aber auch Rumänen und Polen, ein Chinese, der Zeitung liest, zwei lateinamerikanische Frauen, die sich in breitem, kubanischen Akzent unterhalten. Ein Afrikaner, tief in seinen Sitz gesunken, döst vor sich hin. Jetzt steigt ein Peruaner mit Gitarre ein, stimmt ein Lied an und hält seinen Hut auf. Und mittendrin sitze ich. Susi, 19 Jahre alt, die mit großen Plänen hierher in die spanische Hauptstadt gefahren ist, und sich jetzt, da sie endlich angekommen ist, fragt, ob sie sich nicht ein wenig überschätzt. Was kann ich denn von den Frauen erwarten? Doch nicht etwa, dass sie mir, einer völlig fremden jungen Frau, ihr ganzes Leben unterbreiten? Wie sollen sie sich sicher sein, dass sie mir vertrauen können? Manche von ihnen werden wahrscheinlich keine Aufenthaltsgenehmigung und deswegen noch mehr Skepsis Fremden gegenüber haben. Mein mulmiges Gefühl wächst. Ob das wohl gut geht?

Dann stehe ich mit pochendem Herzen vor der ersten fremden Haustür dieses Abenteuers und sitze wenig später auf Carmens roter Plastikcouch in einem kleinen dämmerigen Raum, der vom Flackern des Fernsehers erleuchtet ist. Und plötzlich sind alle Bedenken wie weggespült, denn Carmen erzählt und erzählt aus ihrem Leben. Als sie von den vielen vergangenen Jahren berichtet und diese innerlich noch einmal zu durchleben scheint, spiegelt ihr weiches und dennoch robustes Gesicht so viele Emotionen wider. Sie berichtet mir von den frühen Schwangerschaften, der Auswanderung, die sie nie wollte, den kalten Nächten im Retiropark mit ihren Kindern. Sie erzählt von einem ihrer Söhne, der im Gefängnis sitzt und von ihrer alten Mutter, die immer noch nichts vom Tod ihres jüngsten Sohnes weiß. Carmen lacht und weint beim Erzählen, und ich höre gebannt zu, dankbar für ihr Vertrauen, sprachlos angesichts dieses harten, erbarmungslosen Schicksals.

In den nächsten Wochen folgen immer mehr Interviews mit lateinamerikanischen Frauen, und glücklich stelle ich fest, dass meine anfänglichen Zweifel überflüssig gewesen sind. Die Gespräche laufen ausnahmslos rege und persönlich ab. Hinter jedem Gesicht steckt eine neue, einzigartige Geschichte, jede mit ihren schönen, viele leider auch mit sehr traurigen Seiten. Die Frauen scheinen froh darüber zu sein, dass sich jemand ehrlich für sie und ihre Geschichten interessiert. Mit der Zeit stellen sich mir immer mehr Fragen. Ich will das politische System begreifen, mit dem Spanien mit Immigranten umgeht, will wissen, wie die wirtschaftliche und politische Situation in den Ländern ist, wo meine Gesprächspartnerinnen herkommen. Also wende ich mich an staatliche und nichtstaatliche Hilfsorganisationen, um dort mit Experten und Beratern zu sprechen. Dort werde ich freundlich empfangen, darf an Kursen teilnehmen und lerne noch mehr Frauen kennen. Außerdem besuche ich zwei Veranstaltungen über das Wahlrecht für Immigranten und solche, die ein Unternehmen eröffnen wollen. Ich feiere das bunte Straßenfestival „VivAmérica“ mit, besuche eine chilenische Tanzgruppe bei ihrer Probe und sehe mir eine Musik- und Tanzaufführung von südamerikanischen Laienkünstlern an. Es ist wunderschön zu erleben, wie die lateinamerikanische Kultur auch im fernen Europa weiterblüht. Der Patriotismus, das Heimweh und die ähnlichen Geschichten verbinden die „Latinos“ miteinander und schafft ein Gefühl der[nbsp] Zusammengehörigkeit.

Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen setzen sich die vielen Informationen, Geschichten und Eindrücke langsam zusammen, bis sie am Ende meiner Reise ein schlüssiges Bild ergeben, das durch die Ausarbeitung meiner Studienarbeit immer schärfer und klarer wird. Die zis-Reise war für mich das Beste, was ich im letzten Jahr hätte machen können. Mir wurde so viel Hilfe und Gastfreundschaft entgegen gebracht, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. In Zukunft werde ich den eingeschlagenen Weg weiter gehen – mit einem Studium in Ethnologie und Lateinamerikastudien.


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