Ausgestattet war ich mit einem Thema, für das ich immer wieder fragende Blicke ernten würde: Es ging mir darum, herauszufinden, was hinter dem Brasilien-Trend in Paris steckt, was Brasilianer denken, wenn sie Franzosen begeistert in die zahlreichen brasilianischen Sambabars strömen sehen und was ein solches Phänomen für die Identität eines Volkes bedeutet. Ich war also eine Deutsche in Frankreich, die sich mit der brasilianischen Kultur beschäftigte - für viele Grund zu grenzenlosem Erstaunen. Und wer weiß, wie ich vor meiner Reise auf eine Schwedin reagiert hätte, die in Deutschland unser Verhältnis zur afrikanischen Kultur untersucht hätte? Ein Monat unterwegs mit zis hat mir gezeigt, was uns unsere Liebe zum Alltäglichen alles verpassen lässt.
Tatsächlich gab es in „meinem“ Paris kaum Konstanten, die mich in einen Alltagstrott hätten locken können. Da waren vielleicht die täglichen Fahrten in der Metro von einem Ort zum nächsten, inmitten zielstrebiger Menschen, die ich anfangs um ihren offensichtlich so strukturierten Tagesablauf beneidete und dann jeden Tag mit mehr Distanz betrachten konnte. Neid, weil diese Menschen nicht wie ich immer neue Ideen und Pläne entwerfen und sich regelmäßig über ihre nächste Unterkunft Gedanken machen mussten: Die Gewohnheit beschützt uns vor der Unsicherheit.
Es dauerte jedoch nicht lange, da wurde ich mir um die einzigartige Situation bewusst, in der ich mich befand. An wenig gebunden, konnte ich alleine, ohne kritische Blicke von außen, über den Verlauf meiner zis-Reise bestimmen. Das „Fehlen“ eines geregelten Tagesablaufs und mein auf viele so unkonventionell wirkendes Projekt brachten mich dazu, mich wie nie zuvor Menschen und Begegnungen gegenüber zu öffnen und dem Unerwarteten eine Chance zu geben.
Wäre ich in diesem Frühsommermonat im Rahmen des Gewöhnlichen geblieben, hätte ich nie die Barbieris kennen gelernt, eine brasilianische Familie, die mich für mehr als zwei Wochen bei sich aufnahm und mich behandelte, als würde ich schon seit Ewigkeiten zu ihnen gehören. Ich hätte nicht mit Eliane und ihren Helfern eine Kinderfeier für São João, eine der wichtigsten brasilianischen Traditionen, vorbereiten können und einen Nachmittag lang inmitten von geschminkten Kindern und tanzenden Erwachsenen vergessen können, in welchem Land ich mich gerade befinde. Sicher, ich hätte auch nicht erlebt, was es bedeutet, einen gesamten Vormittag mit der Suche nach einer Adresse zu verbringen und dort nur ein leeres Haus anzutreffen oder, noch schlimmer, Personen, die ausnahmsweise nicht bereit sind, mir zu helfen. Doch hätte ich mich niemals auf so viele Menschen mit ihren Geschichten eingelassen, ihnen zugehört und erlebt, wie eine Stadt, deren Anonymität mich anfangs überwältigt hatte, jeden Tag ein neues Gesicht bekam und für mich zum Inbegriff von Gastfreundschaft wurde.
Die Begriffe Identität und Kultur habe ich dabei als sehr unscharf erlebt, sodass es mir nicht immer leicht fiel, konkrete Antworten auf meine Fragstellungen zu finden. In jedem Fall ist mir bewusst geworden, dass es an uns liegt, die „richtigen“ Definitionen zu finden und dass diese gerade in einer globalisierten Welt weiter gehen müssen als an die Grenzen unseres Alltags und unseres vertrauten Umfeldes. Meine zis-Reise hat mich viel erleben lassen. Was für immer bleiben wird, ist die Warnung davor, mich auch nur einen Moment meines Lebens lang allein an meinen Gewohnheiten festzuhalten und die Augen dem Unbekannten gegenüber zu verschließen.